Die Kantone haben am 15. November 2019 an einer Sonderversammlung in Bern die revidierte interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) einstimmig verabschiedet. Die revidierte IVöB bringt die angestrebte Harmonisierung mit dem ebenfalls revidierten Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB), das voraussichtlich per 1.1.2021 in Kraft tritt. Die Kantone können nun in eigenen gesetzgeberischen Verfahren den Beitritt zum Konkordat in die Wege leiten und so die revidierte IVöB in ihr kantonales Recht übernehmen. Die revidierte IVöB wird in Kraft treten, sobald zwei Kantone dem Konkordat beigetreten sind. 1Medienmitteilung InöB (Interkantonales Organ für das öffentliche Beschaffungswesen) vom 18. November 2019.
Ziel des vorliegenden Kurzbeitrages ist es, die mit Inkrafttreten der IVöB einhergehenden Änderungen bei den Zuschlagskriterien zu erläutern, da die Einführung der neuen Zuschlagskriterien in der Praxis zu etwelchen Unsicherheiten und juristischen Auseinandersetzungen führen dürfte.2Gleich für das BöB, Jean-Baptiste Zufferey, Nouveau droit (fédéral) des marchés publics : faire du neuf avec l’ancien ? Un peu plus tout de même, in : BR/DC 1/2020, p. 6.
Die Grundsätze und Ziele des öffentlichen Beschaffungsrechts, also die Förderung des Wettbewerbs, die Transparenz der Verfahren, die Nichtdiskriminierung der Anbietenden und die wirtschaftliche Verwendung öffentlicher Mittel werden beibehalten.3Musterbotschaft zur Totalrevision der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen vom 15. November 2019 (Version 1.0 vom 16. Januar 2020) (nachfolgend Musterbotschaft IVöB), S. 7. Zu den wichtigen Neuerungen der Revision gehört der Wechsel bei den Zuschlagskriterien infolge Stärkung des Qualitätswettbewerbs.4Die Musterbotschaft IVöB spricht von einem Paradigmenwechsel bei den Zuschlagskriterien (Musterbotschaft IVöB, S. 15). Als weitere wichtige Neuerungen werden in der Botschaft erwähnt, (i) die Unterstellung der Verleihung bestimmter Konzessionen und der Übertragung gewisser öffentlicher Aufgaben unter das Beschaffungsrecht, (ii) die elektronische Abwicklung von Beschaffungsverfahren, (iii) die Einführung flexibler Instrumente wie Dialog, Rahmenverträge, elektronische Auktionen sowie verkürzte Fristen für die Offerteingaben und den Antrag um Teilnahme im selektiven Verfahren, (iv) die Korruptionsprävention im öffentlichen Beschaffungswesen, (v) die Regelung des Ausstands aufgrund der Besonderheiten des Vergabeverfahrens, (vi) die systematische Regelung der Ausschluss- und Sanktionstatbestände, (vii) die Einführung einer zentralen – nicht öffentlichen – Liste mit Anbietern und Subunternehmern, die von künftigen Beschaffungsvorhaben ausgeschlossen sind, (viii) die Publikation des Verfahrensabbruchs zur Stärkung der Transparenz, (ix) die Möglichkeit der adhäsionsweisen Erledigung von Schadenersatzbegehren durch die Beschwerdeinstanz, (x) die Verlängerung der Rechtsmittelfrist von zehn auf 20 Tage, (xi) die zwingende Veröffentlichung von Publikationen auf einer Internetplattform von Bund und Kantonen für öffentliche Beschaffungen, (xii) die weitestgehende Integration der bisher als Empfehlung geltenden Vergaberichtlinien (VRöB) in die revidierte Vereinbarung (Musterbotschaft IVöB, S. 14 f.). Dieser Wechsel geht auf einen Beschluss des eidgenössischen Parlaments zurück, wobei jedoch die Kantone in der revidierten IVöB trotz der grundsätzlich begrüssten Harmonisierungsbestrebungen von Bund und Kantonen im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens nicht alle Neuerungen des BöB übernommen haben, weil sie einzelne vom Bundesparlament eingeführte Kriterien als kaum umsetzbar erachtet haben.5Musterbotschaft IVöB, S. 21, 68 f. Die Zuschlagskriterien werden in Art. 29 IVöB aufgezählt,6Art. 29 IVöB hat folgenden Wortlaut:
Art. 29 Zuschlagskriterien
1 Der Auftraggeber prüft die Angebote anhand leistungsbezogener Zuschlagskriterien. Neben dem Preis und der Qualität einer Leistung kann er insbesondere Kriterien wie Zweckmässigkeit, Termine, technischer Wert, Wirtschaftlichkeit, Lebenszykluskosten, Ästhetik, Nachhaltigkeit, Plausibilität des Angebots, Kreativität, Kundendienst, Lieferbedingungen, Infrastruktur, Innovationsgehalt, Funktionalität, Servicebereitschaft, Fachkompetenz oder Effizienz der Methodik berücksichtigen.
2 Ausserhalb des Staatsvertragsbereichs kann der Auftraggeber ergänzend berücksichtigen, inwieweit der Anbieter Ausbildungsplätze für Lernende in der beruflichen Grundbildung, Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmende oder eine Wiedereingliederung für Langzeitarbeitslose anbietet.
3 Der Auftraggeber gibt die Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung in der Ausschreibung oder in den Ausschreibungsunterlagen bekannt. Sind Lösungen, Lösungswege oder Vorgehensweisen Gegenstand der Beschaffung, so kann auf eine Bekanntgabe der Gewichtung verzichtet werden.
4 Für standardisierte Leistungen kann der Zuschlag ausschliesslich nach dem Kriterium des niedrigsten Preises erfolgen. wobei es sich dabei um eine nicht abschliessende Aufzählung möglicher Kriterien handelt.7Musterbotschaft IVöB, S. 69. Für die Konkretisierung dieser Bestimmung ist die in Art. 2 IVöB enthaltene Zwecknorm heranzuziehen.8Musterbotschaft IVöB, S. 24. Die IVöB bezweckt (unter anderem) die Nachhaltigkeit der Beschaffung, d. h. den wirtschaftlichen und den volkswirtschaftlich, sozial und ökologisch verantwortungsvollen Einsatz der öffentlichen Mittel (vgl. Art. 2 Bst. a IVöB).
Gemäss Art. 29 Abs. 1 IVöB prüft der Auftraggeber die Angebote anhand leistungsbezogener Zuschlagskriterien. Die Zuschlagskriterien orientieren sich primär an der Leistung, d.h. sie müssen einen sachlichen Bezug zum Beschaffungsobjekt haben9Musterbotschaft IVöB, S. 69. und nicht «an anderen, sachfremden Inhalten oder politischen/gesellschaftlichen Ideen».10Claudia Schneider Heusi, Anbieter, Offerten, Kriterien, in: BR/DC 1/2020, S. 34. Das Zuschlagskriterium der Qualität soll neu wie jenes des Preises grundsätzlich immer im Rahmen der Angebotsbewertung mitberücksichtigt werden. Damit will man einer qualitätsorientierten Beschaffungspraxis noch stärker Nachachtung verschaffen. Ausgenommen ist hiervon die Beschaffung von standardisierten Leistungen (Art. 29 Abs. 4).11Musterbotschaft IVöB, S. 69. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kommt dem Preis zur Bestimmung des wirtschaftlich günstigsten Angebots bei der Beschaffung komplexer Werke oder Dienstleistungen regelmässig weniger Gewicht zu und es rücken andere Kriterien wie Qualität und Termine in den Vordergrund. Bei komplexen Beschaffungen muss allerdings der Preis einer nachgesuchten Leistung im Umfang von mindestens 20 % Berücksichtigung finden.12BGE 143 II 553 E. 6.4 S. 559 Von den anderen in Art. 29 Abs. 1 IVöB aufgezählten Kriterien sollen kurz dasjenige der «Lebenszykluskosten» sowie das Kriterium der «Nachhaltigkeit» beleuchtet werden.
Gemäss den Ausführungen in der Musterbotschaft handelt es sich beim Kriterium der Lebenszykluskosten um den Oberbegriff für Beschaffungs-, Betriebs-, Rückbau- und Entsorgungskosten.13Musterbotschaft IVöB, S. 69. Bei den Betriebskosten sind die Nutzungskosten (z. B. der Verbrauch von Energien und anderen Ressourcen) sowie die Wartungskosten zu berücksichtigen.14Ibid.
Zum Kriterium der Nachhaltigkeit führt die Botschaft aus, dass dieses die drei Dimensionen Wirtschaftlichkeit, Ökologie und Soziales beinhaltet.15Ibid.
Die Kriterien Lebenshaltungskosten und Nachhaltigkeit, aber auch andere in Art. 29 Abs. 1 IVöB erwähnte, mögliche Zuschlagskriterien sind unscharf sowie «anspruchsvoll in der konkreten Anwendung und setzen eine klare Umschreibung der geforderten Nachweise sowie der vorgesehenen Bewertung voraus».19Claudia Schneider Heusi, op. cit., S. 33. Es ist zu hoffen, dass sich die Auftraggeber stets strikte an den Grundsatz halten werden, dass die Zuschlagskriterien einen direkten, sachlichen Bezug zur nachgesuchten Leistung aufweisen müssen,20BGE 143 II 553 ; siehe auch Olivier Rodondi, Soumissionnaires, conditions et participation, critères et offres, in : BR/DC /2020, S. 30. andernfalls eines der Ziele des öffentlichen Beschaffungsrechts, nämlich der wirtschaftliche Einsatz der öffentlichen Mitteln, nicht mehr erreicht werden könnte.
Abschliessend sei auf Art. 29 Abs. 2 IVöB hingewiesen, gemäss welchem die Berücksichtigung der Lehrlingsausbildung, obwohl dieses Zuschlagskriterium grundsätzlich vergabefremd ist, unter bestimmten Voraussetzungen – beschränkt auf Beschaffungen ausserhalb des Staatsvertragsbereichs – möglich bleibt.21Musterbotschaft IVöB, S. 70.